Die unsichtbare Mauer

Von Julia Mann aus Bonn

 

Ich bin weiß. Ich bin in Deutschland geboren und habe die deutsche Staatsangehörigkeit. Ich bin nicht in der Position, darüber zu sprechen, wie sich Rassismus anfühlt, denn ich habe Rassismus noch nicht erlebt. Ich genieße alle Privilegien, die es nur gibt.

Aber ich gehe gegen die AfD demonstrieren – einmal da am Sonntag. Ich mache doch schon Alles was möglich ist! Außerdem kann man doch auch gar nicht mehr machen?!

Also wo ist das Problem? Reicht es denn nicht, einmal auf eine Demonstration zu gehen, ein nettes Schild zu basteln, auf dem ein netter Spruch ,,Der Döner soll bleiben‘‘ steht? Wo ist das Problem?

Das Problem liegt.

… in der Bahn: nachts, ich steige am Hauptbahnhof zu, als Frau, allein – schonmal scheiße. Dann sitzen da zwei Männer. Noch mehr scheiße. Die Bahn sonst leer, nur das monotone Rauschen von der angespannten Stille im Leerkörper der Bahn ab. Der eine Mann ist weiß, der andere Schwarz. Ich setze mich auf einen blauen Bahnsitz, mit den Riffeln drauf, die immer so ungemütlich aussehen – in die Nähe des Weißen. Weil es sich sicherer anfühlt. Und dabei habe ich keine Sekunde drüber nachgedacht, ich bin einfach meinem Gefühl gefolgt. Wo ist das Problem?

Oder auf der Party: Ich bin mit Freund*innen gekommen, trinke Tequilashots, flirte und tanze und habe einen großartigen Abend. Dann gehe ich frische Luft schnappen, trete auf den Balkon und sehe bereits die Sonne aufgehen. Mein Kopf ist wie leer gepustet und dann steht da ein süßes Mädchen, genau mein Typ. Ich spreche sie an, frage wie sie heiße. Nach den ersten Wortwechseln droht ein peinliches Schweigen einzutreten. Also entscheide ich, dass Gespräch in eine persönlichere Richtung zu lenken. Ich frage, woher sie komme. Sie sah doch schließlich ,,anders‘‘ aus. Wo ist das Problem?

Am Frühstückstisch: Mein Onkel erzählt von seiner Arbeit. Dass er einen neuen Chef bei der Arbeit habe. Eine Werbeagentur, in der mittlerweile fast gleich viele Frauen wie Männer arbeiten würden – stolzer Blick zu meiner Mutter, Nicken in meine Richtung. Dieser Chef jedenfalls sei Araber – dramatische Pause – und spreche hochdeutsch. HOCHDEUTSCH? Wie ulkig, grinst mein Onkel. Ich starre auf meinen Frühstücksbrei und denke, dass es jetzt doch nichts bringen würde, zu erklären, dass es definitiv nicht komisch sei. Wo ist das Problem?

Und wo ist das Problem, wenn ich sage, dass ,,die Türken‘‘ halt aggressiver seien und Arbeitsplätze wegnehmen würden, dass ,,die Chinesen‘‘ halt wirklich alle im Nagelstudio arbeiten würden und ,,die Muslime‘‘ halt einfach öfter Terroranschläge ausführen würden, weil ,,die‘‘ einfach von ihrer Religion dazu gebracht werden würden – wenn es doch so ist?

Das Problem bin ich. Sind alle diejenigen, die durch Sprache und Handlungen Mauern bauen. Die, die keine Menschen sondern ,,die Anderen‘‘ sehen. Die, die Unterschiede zwischen Menschen suchen, die es nicht gibt. Die, die vergessen, dass alle Menschen immer und überall gleich viel wert sind und wir alle Menschen sind, die sich verlieben, stolpern, über schlechte Witze lachen und das Bedürfnis nach Zuwendung und Verständnis haben. Und wenn dann noch die AfD an Zuwachs gewinnt, gilt es nicht, ,,nur‘‘ demonstrieren zu gehen. Gestern hätten wir, und damit meine ich ALLE, wach werden und gegen Rassismus auf die Straße gehen sollen. Jetzt müssen wir auch auf uns selbst schauen und aufhören, Mauern zwischen Menschen zu bauen, die es nicht gibt – und endlich zeigen, dass alle willkommen sind.

Ich möchte meine Brille aus Vorurteilen absetzen. Ich möchte lernen, den Menschen zu sehen und nicht das, was ich durch Aussehen, Sprache oder Erscheinung erfinde. Ich glaube, wir sind an einem Punkt, wo wir nur noch mit Liebe und Offenheit durch die Welt spazieren sollten.

Letzte Woche in Paris: Ich blicke auf den leuchtenden Eiffelturm. Ich bin mit meinem Leistungskurs hier. Von weiter weg höre ich Musik. Auf einem Platz in der Nähe hat sich eine bunte Gruppe von ganz unterschiedlich aussehenden Menschen versammelt, sie tanzen ausgelassen zu einem Lied. Sie singen und lachen, und Worte in verschiedenen Sprachen fliegen hin und her – ich kann Französisch heraushören und Englisch und Fetzen, die in meinen Ohren Arabisch klingen. Meine Freundin und ich entscheiden uns kurzerhand dazu, mitzutanzen. Wir können den Text zwar nicht verstehen, aber die Musik ist wunderschön und wir tanzen im Takt. Mit der Zeit kommen immer mehr Menschen hinzu. Eine andere Reisegruppe fängt ebenfalls an, freudestrahlend zu tanzen. Eine Frau steht neben mir, wir lächeln uns an und ich fordere sie zum Tanzen auf. Ich schaue in die große Runde. Und sehe Menschen, alle so unterschiedlich, doch wir alle tanzen und singen und lachen uns an und genießen den Moment. Als ich an die rechtsextreme Situation in Europa und die politischen Krisen weltweit denken muss, treten mir Tränen in die Augen – wir können doch alle zusammen tanzen.

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