Von Lotta Palm aus Langenfeld
In jener Nacht wurde ich durch ein lautes, klirrendes Geräusch geweckt. Ich verharrte, um die Ursache zu erkennen. Angestrengt hörte ich in die Nacht hinein. Es herrschte Totenstille. Hatte ich mir das nur eingebildet? Ich wollte mich gerade wieder zurück in mein Kissen fallen lassen, um morgen früh nicht allzu müde zu sein, da geschah es wieder. Ein Knall, der sich verdächtig nach zerberstendem Glas anhörte. Ein Schauer durchfuhr mich und ich kämpfte gegen Gänsehaut an. Der Knall ertönte ein drittes Mal. Doch jetzt klang es viel näher. Mein Bauch verkrampfte sich und mit dunkler Vorahnung stand ich auf und lief zu dem kleinem Dachfenster meiner Kammer. Der Fußboden war kalt und brachte mich zum frösteln. Draußen setzte gerade die Morgendämmerung ein. Im spärlichen Licht konnte ich mehrere Gestalten erkennen, die sich auf unseren Häuserblock und den unserer Nachbarn zubewegten. Einer von ihnen trug eine Axt über der Schulter und ein zweiter schleppte einen Spaten mit sich herum. Verwundert sah ich, wie sie die Veranda des Nachbarhauses betraten. Aber anstatt zu klingeln, holte der Mann mit dem Spaten aus und schlug in das Fenster im Erdgeschoss ein, das zu der Wohnung der Schmitts gehörte. Das Splittern des Glases hallte durch die ansonsten verlassene Straße. Ich zuckte zusammen. Was war hier los?! Der Mann mit der Axt begann nun auch auf die Holztür der Schmitts einzuschlagen. Mit jedem Hieb ertönte ein dumpfer Schlag. Und mit noch größerem Schrecken sah ich, wie weitere Gestalten die Straße hinunter kamen. Einige von ihnen machten sich sogar auf den Weg zu unserem eigenem Häuserblock. Voller Panik rannte ich zum Zimmer meiner Eltern. Von unten an der Haustür erklangen Stimmen und ich hörte Schritte von mehreren paar Stiefeln. Die Geräusche drangen zu uns in die Wohnung herauf und unter sie mischten sich zusätzlich laute Rufe. Meine Eltern waren bereits wach und kamen mir auf halbem Weg entgegen.
„Sie kommen und holen uns“, rief ich aufgewühlt aber trotzdem so leise, wie möglich, um nicht von den Männern unten gehört zu werden. Mutter nahm mich fest in den Arm und Vater sagte nur mit nervös zuckenden Augenliedern: „Nein Marie Schatz, sie kommen nicht wegen uns, mach dir keine Sorgen!“
Doch diese Antwort machte mir beinahe noch mehr Angst. „Weswegen dann? Was geschieht hier?“ Ich bemühte mich, nicht weinen zu müssen. Denn inzwischen hallte durch die ganze Straße ein unaufhörliches Klirren, Rufen und Schreien.
„Meinst du das sind sie?“, fragte Mutter unsicher und hielt mich fest umklammert.
„Ja ich fürchte schon … Diese verdammten … dazu haben sie doch kein Recht! Diesmal gehen sie zu weit!“
„Thomas!“, unterbrach Mutter meinen Vater, „Wenn uns jemand hört!“ „Womit gehen sie zu weit? Wer sind diese Leute?“, fragte ich verwundert. „Dass… sind ganz böse Menschen, die normale, nette Menschen vertreiben wollen.“
Mutter warf Vater einen warnenden Blick zu. Wir eilten zurück zu meinem Fenster und mussten feststellen, dass draußen ein einziges Chaos herrschte. Der Asphalt war übersäht mit Glassplittern, sämtliche Häuser ringsum waren demoliert. Hin und wieder standen Inneneinrichtungen angebrannt oder zerstört kreuz und quer in den Gärten. Auf den Straßen parkten nun eine Reihe von großen Autos. Mutter versuchte mir die Hand vor die Augen zu halten, doch ich sah mit Entsetzen, wie diese nicht zu erkennenden Gestalten einen Menschen nach dem anderen aus den Häusern über die Glasscherben zerrten und anschließend in die bereitstehenden Wagen brachten. Darunter waren sowohl Männer und Frauen, als auch Kinder.
„Wieso tun sie das?“, fragte ich mit hoher Stimme und begann nun doch zu weinen. „Müssen die ins Gefängnis? Was haben unsere Nachbarn getan?“ Ich verstand die Welt nicht mehr.
„Nichts Schatz“, sagte Mutter. Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Sie weinte auch nicht viel. Aber ihre Augen waren wässrig. „Sie haben nichts getan. Das ist das Schlimme.“
Ich sah wieder hinaus auf die Straße. Da entdeckte ich ihn. Unter den Menschen auf der Straße erkannte ich mit blankem Entsetzen einen kleineren Jungen in meinem Alter. Es war Sebastian, mein früherer bester Freund. Wir waren zusammen zum Kindergarten gegangen, bis er eines Tages nicht mehr kam und meine Erzieherin mir erklärt hatte, er würde nicht in unsere Gruppe passen. Wir hatten uns trotzdem immer zum Spielen getroffen, bis meine Eltern es mir auf einmal verboten hatten. Ich hatte nie verstanden wieso. Und ich wollte es auch nicht verstehen. Doch nun, da ich ihn dort unten auf der Straße sah, wie er sich verängstigt umsah und weinte, musste ich noch mehr weinen. Denn ich wusste es von dem Moment an, in dem er im Wagen verschwand. Ich würde ihn nicht mehr wieder sehen.
30. März 2070
Ich blätterte eine Seite weiter in meinem Geschichtsbuch und las mir die Aufgabenstellung noch einmal durch. „Nr.1: Beurteile basierend auf VT1, ob die Kristallnacht ein Ereignis war, das verhindert hätte werden können. Musste es so weit kommen?“
Unsere Lehrerin hatte uns in Gruppen aufgeteilt, um die verschiedenen Geschichten von Menschen in der Reichspogromnacht zu lesen und jeweils die dazu gehörende Aufgabe zu bearbeiten. Mir wurde Vt1 zugeteilt und ich ließ mir die Geschichte der kleinen Marie immer und immer wieder durch den Kopf gehen. Ich fand es schrecklich, dass es so etwas früher gegeben hatte und mir war gar nicht in den Sinn gekommen, das auch kleine Kinder bei dem Überfall auf die Juden dabei gewesen sein mussten.
Ich sah mich im Klassenraum um. Ein Großteil meiner Klassenkameraden hatte bereits zu Schreiben begonnen. Ich öffnete das Schreibprogramm und ein Hologramm erschien in der Luft. Dann begann ich zu tippen.
„Musste es so weit kommen?“, überlegte ich. Eine Frage, die alle bewegte, um über Weltkriege, Krisenzeiten und Katastrophen zu diskutieren. Aber hinterher brachte das einem doch nichts mehr, oder? Die Frage musste viel eher heißen: „Wie weit muss es kommen?“
Je genauer ich darüber nachdachte, desto stärker fiel mir auf, dass die Situation zur Zeit der Reichspogromnacht erstaunlich gut zu unserer jetzigen Situation passte. Wenn man sich nur die Nachrichten ansah, fiel doch schon auf, dass wir von einer Wahl der „neuen Nationalsozialisten“ gar nicht mal so weit entfernt waren. Irgendwie tat man das alles immer als vergangenes Geschehen ab. Aber Strenggenommen waren wir am gleichen Punkt angekommen, wie vor 132 Jahren, ohne es auch nur zu merken.
Die Menschen dachten wahrscheinlich, es sei schon sehr lange vorbei. Das war es aber nicht. Es kam zurück, wie ein Virus, der Hass und Unrecht verbreitete.
Erst letztens war in der Tagesschau ein Rückblick gezeigt worden. Menschen waren vor beinah 50 Jahren auf die Straße gegangen und hatten protestiert, weil Vertreter der AfD an einem geheimen Treffen teilgenommen hatten, um Pläne für die Abschiebung von Ausländern zu schmieden.
Nach langer Zeit von Protesten hatte sich die AfD noch gerade so in den Parlamenten halten können. Wenn man genau darüber nachdachte, war es wirklich ein Wunder, warum diese Partei immer noch bestehen konnte. Das Schlimme daran war, das noch immer erschreckend viele Leute die Meinung der AfD vertraten oder viele der Versprechungen, die die Partei machte unterstützten. Die Stimmenanteile der AfD hatten sich im Vergleich zum Jahr 2020 um 30% verstärkt, hatte unsere Politik-Lehrerin uns vor einigen Tagen erst erzählt.
Irgendwie schien die Hälfte der Menschen die ganzen Vorfälle wie zum Beispiel dieses menschenfeindliche Treffen vergessen zu haben. Europaweit gab es so viele Probleme. Sie waren überall…. Man sah sie nur nicht immer. Und die meisten von ihnen wurden vergessen. Aber nur, weil etwas nicht zu sehen war, hieß das noch lange nicht, dass es nicht existierte. Und Diskriminierung existierte. Im Beruf, in den sozialen Medien und leider auch in meiner Klasse. Und das im Jahr 2070! Da denkt man, man wäre fortschrittlich, und könne mit KI und allen Technischen Geräten dieser Welt umgehen, aber was das soziale Umfeld anging, steckten wir immer noch im Mittelalter.
Die traurige Wahrheit war, dass auch in der Tagesschau nur etwa die Hälfte von den schlimmen Problemen zu sehen war, die auf dieser Welt täglich geschahen.
Ich begann zu schreiben:
Ich glaube, dass vieles damit zu tun hatte, dass die Menschen sich nicht im Klaren waren, was passierte, oder das sie sich aus Angst nicht im Klaren sein wollten. Das ist heute genauso ein Problem wie früher.
Natürlich können wir es uns alle einfach machen und die Entschuldigung ausnutzen, wir hätten von einigen Dingen überhaupt nichts gewusst. Nur wären wir dann nicht viel besser, als jene Menschen, die zur Zeit der Judenverfolgung so taten, als würden sie den Gestank der KZ Lager nicht riechen, und als würde ihnen nicht auffallen, dass ihre Nachbarn plötzlich für immer verschwanden. Und heute kann man ja sehen, wohin das geführt hatte.
Wort der Autorin:
Ob es uns gefällt oder nicht: Es ist unsere Aufgabe uns zu informieren, DAMIT wir davon wissen. Wir müssen unsere Augen wirklich aufmachen, denn die Probleme anderer gehen uns alle etwas an. Und wer kann uns überhaupt versichern, dass wir am nächsten Tag nicht denselben Schrecken ausgesetzt sind, ob nun Aufgrund unserer Hautfarbe, Herkunft, Religion, unseres Geschlechtes oder sonst etwas anderem.
Wäre es da nicht schön, zu wissen, dass es trotzdem Menschen da draußen gibt, die nicht nur für ihre, sondern auch für deine eigene Gerechtigkeit kämpfen und einstehen? In Momenten, in denen du selbst es nicht kannst? Wenn du also das nächste Mal keinen Grund zur Überwindung findest, um dich für andere einzusetzen, solltest du dich an das Gefühl erinnern, wie es wäre, selbst alleine dazustehen, ohne Möglichkeit auf Verteidigung. Wir sind Menschen. Egal von welchem Kontinent wir kommen, Fakt ist, wir leben alle unter derselben Sonne und wir haben immer noch dieselben Ziele. Menschheit gibt es nicht ohne Zusammenhalt.
Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass irgendwann jemand die Führung übernimmt. Wir müssen selbst den Mund auf machen. Aber das kann manchmal ziemlich schwer sein. Umso wichtiger ist es, mutig zu sein und für diejenigen einzustehen, die nicht die Möglichkeit haben, es selbst zu tun.
In Gedenken an Alexei Nawalny, der Alles für eine gerechte Aufklärung in Russland getan hat, und dafür sogar sein Leben aufs Spiel setzte und es opferte. Nawalny hat uns gezeigt, dass es durchaus möglich ist, hinzuhören und hinzusehen. Aber auch, dass es verdammt viel Mut braucht und das es nicht immer gut ausgeht. Und dennoch muss man immer unterscheiden zwischen dem einfachen und dem richtigen Weg. Wir sollten Nawalny als Inspiration sehen, warum es wichtig ist, für Gerechtigkeit einzustehen, auch wenn es nicht immer leicht ist.