Von Rebekka van Ingelgom aus Aachen
~ 1. November 1966 ~
Ich stand in der geschäftigen Bahnhofshalle, umgeben von dem Summen der Menschen und den Rattern der Züge. Der kalte Herbstwind zerrte an meinem Mantel, während ich mich zum Schalter begab, mein Ziel fest im Blick. Hinter dem Gitter saß ein Bahn-Mitarbeiter. Seine Augen bohrten sich förmlich in meine Seele. Sein Blick war nicht nur intensiv, sondern auch durchdringend, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Mein Leben hing daran, dass er es nicht wirklich konnte.
,,Guten Tag. Ich bräuchte eine Fahrkarte nach Berlin, bitte.“
,,Guten Tag. Einfache Fahrt nach Berlin?“
Ich nicke: ,,Ja, bitte. Für heute Abend, wenn möglich.“
„Verstanden. Um wie viel Uhr wollen Sie abreisen?“, fragte der Bahn-Mitarbeiter.
Ich überlege kurz: ,,Um 22:00, wenn das möglich ist.“
,,Ein Ticket für heute Abend um 22:00. Das macht dann 12 Mark.“
Ich öffnete meine Brieftasche und zählte das benötigte Geld sorgfältig ab, bevor ich es über den
Tresen reichte.
,,Hier ist Ihre Fahrkarte. Gute Reise nach Berlin“, er zog eine Augenbraue hoch und musterte mich prüfend. Ich hatte Panik, man könnte meine Angst erkennen. Ich fing an zu stottern, doch der Mitarbeiter ignorierte mich einfach und rief den nächsten Kunden auf.
Ich stand für einen Moment da, betrachte die Fahrkarte in meiner Hand und machte mich dann auf den Weg zum Bahnsteig. Ich musste noch eine Stunde warten, bevor mein Zug kam.
Plötzlich überfielen mich wieder all diese Zweifel und die Fragen, die ich mir schon tausendmal gestellt hatte. Sollte Ich die Flucht wirklich wagen? Würde ich es schaffen, unbemerkt über die Mauer zu kommen? Mein Militärtraining würde sich sicherlich auszahlen und die Wachen würden mich nicht bemerken, wenn ich flink wäre. Aber die wichtigste Frage von allen war:
Warum wagte ich die Flucht aus der DDR überhaupt? Ich verließ meine ganze Familie, aber ich wollte einfach nur frei sein. In der DDR fühlte ich mich wie eingesperrt, konnte nicht reisen oder meine Meinung frei äußern. Im Westen erhoffte ich mir besseres. Das war es, wonach ich mich sehnte: die Freiheit, mein Leben selbst zu bestimmen, ohne ständige Kontrolle und Einschränkungen. Gott möge mich und meine Familie schützen! Bevor ich es mir anders überlegen konnte, kam auch schon die S-Bahn nach Berlin.
Ich stieg ein und ich spürte, wie sich meine Schultern unwillkürlich anspannten, als die Türen hinter mir schlossen. Die Bahn fuhr los und mein Herz klopfte laut wie ein Hammerwerk. Jeder Atemzug fühlte sich flach und unzureichend an, als würde mir die Luft zum Atmen genommen werden. Die Welt um mich herum erschien bedrohlich und ungewiss. Ich suchte in der Bahn nach anderen Personen, aber ich hatte Glück, dass niemand da war. Gott sei Dank! Ich visualisierte meinen Plan in meinem Inneren: Notbremse ziehen und Mauer überqueren. Der Plan war echt simpel, aber doch sehr schwer umzusetzen.
Der Griff war gut sichtbar neben den Türen angebracht, sein leuchtendes Rot stach sofort ins Auge. Er hatte eine markante Form, die leicht zu greifen war. Als ich meine Hand darauf legte, fühlte ich die Kälte des Metalls gegen meine Haut und spürte, wie sich mein Puls noch weiter beschleunigte, als ich mir vorstellte, wie ich ihn zog.
Ich musste ihn gleich ziehen. Ich erkannte schon die Umrisse der Mauer. Ich durfte jetzt nicht zögern, sonst wäre die ganze Reise umsonst und ich würde niemals in Freiheit leben. 3 … 2 …1 … Ich zog die Notbremse blitzartig.
Der Zug rumpelte und stand nach einer kurzen Bremsphase genau an der Stelle, die ich vorher schon im Auge gehabt hatte. Während ich aus der Tür sprang und den Boden berührte, wurde ein Signalzaun sofort ausgelöst. Ein lautes Zischen erfüllte die Luft, als zahlreiche Patronen grell in den Himmel stiegen. Die plötzliche Aktivierung des Zauns war wie ein Blitz in der Nacht, der die Umgebung in helles Licht tauchte und die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Jetzt war es um mich geschehen, die Wachmänner würden mich bemerkt haben. Aber ich wusste, dass ich jetzt nicht stehen bleiben durfte. Ich rannte natürlich weiter zum ersten Zaun und überwand ihn wie eine Katze. Nach weiteren Metern stand ich aber völlig überrascht vor einem tiefen ehemaligen S-Bahn-Schacht. Sein Grund lag ungefähr fünf Meter unter mir.
Ohne zu überlegen, sprang ich hinein. Mein Herz raste vor Angst und mein Körper prallte gegen harte Oberflächen. Panik stieg in mir auf, aber ich versuchte ruhig zu bleiben. Die Brille fiel mir von der Nase, zerbrach aber nicht. Ein Schutzengel ließ mich unversehrt auf dem Gleisbett aufschlagen.
Hatte ich nun doch verloren? Oh Gott, Ich war völlig verzweifelt. Gleichzeitig mit der Landung auf dem Schotter wurde von einem Posten eine Leuchtkugel abgeschossen. Das Signal bedeutete: Grenzdurchbruch – Feuer eröffnen!
Ich hatte meine Familie umsonst verlassen. Da schaute ich auf das gegenüberliegende Mauerwerk und staunte nicht schlecht. Die Mauer vor mir wirkte alt und brüchig, als ob sie jeden Moment einstürzen könnte. Ihr Putz blätterte ab, und Risse zogen sich wie Spinnennetze über ihre Oberfläche. Also kletterbar!
Ich behielt die Nerven und kletterte wie eine Eidechse an der Wand hoch. Es fiel immer noch kein Schuss. Oben angekommen, rannte ich auf das letzte Hindernis zu, einen Stacheldrahtzaun. Ich riss ihn mit den blanken Händen auf und kroch hindurch. Meine Finger waren blutig, die Wunden zeigten rote Linien. Doch komischerweise verspürte ich keinen Schmerz. Jeden Augenblick erwartete ich die Maschinengewehrsalven, die mich hätten töten sollen, doch es kam nichts. Dann war ich im Westen. In meiner Angst, vielleicht doch noch entdeckt zu werden, kroch ich auf Westberliner Seite aber noch weiter durch Hecken und kletterte über leicht überwindbare Zäune. Langsam näherte ich mich der Bornholmer Straße in Westberlin, deren Name mir aus heimlich kopierten Stadtplänen vertraut war. Dort erwarteten mich schon West-Berliner Polizisten. Sie hatten die haltende S-Bahn und die Leuchtkugeln längst bemerkt. Sie musterten mich von oben bis unten und sie hatten keinen Zweifel, dass ich einen Grenzdurchbruch gemacht hatte. Doch bevor ich mich erklären konnte, verschwamm meine Sicht und ich wurde ohnmächtig. Wie ich später erfuhr, fuhren sie mich mit Blaulicht in ein Notaufnahmelager. Dort wurde ich ärztlich versorgt und herzlichst aufgenommen.
Ich hätte nicht erwartet, dass ich es bisher her schaffen würde. Ich machte mir keine Sorgen mehr um mich, sondern eher um meine Familie in der DDR. Ich hätte sie nicht auf meine Flucht mitnehmen können. Meine Eltern waren schon alt und meine Geschwister hatten nicht den Mut
aufgebracht. Ich hoffte, ich würde sie eines Tages noch einmal wiedersehen. Mein Entscheidung zu flüchten, bereuite ich allerdings nicht. Hier im Westen, konnte ich die Politik mitgestalten.
Ich erinnerte mich an den ersten Satz den der Polizist zuvor gesagt hatte: ,,Willkommen im Westen. Wir werden dir helfen und dich unterstützen, während du dich an dein neues Leben hier gewöhnt. Und dieses Versprechen hielten sie auch ein: Nach 3 Wochen in Westberlin flogen mich die Amerikaner mit einem Flugzeug nach Frankfurt am Main aus und ein neues Leben für mich konnte beginnen …
Info:
Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Meine Freundin stellte mir die wahre Geschichte mit Einverständnis ihres Großvaters zur Verfügung. Ihr Großvater heißt Michael Schwerk, ist heute 81 Jahre alt (Bei Flucht:22 Jahre alt) und teilt seine Erfahrungen heute immer noch mit anderen. Er absolvierte ein Studium für ein Lehramt am Gymnasium in Köln für Sport und Geographie. Durch das sogenannte ,,Verkehrsabkommen“ 1972 konnte er legal in die DDR einreisen und seine Familie wieder treffen. Er selbst hat im Westen auch seine Frau kennengelernt und eine Familie gegründet. Ich selbst habe mich für diese Geschichte entschieden, da ich Herr Schwerks Geschichte inspirierend finde und bedeutend in Bezug auf Europa. Die Geschichte verdeutlicht, wie Herr Schwerk sich trotz seinen Ängsten und Zweifeln dem politischen System entgegengestellt hat und somit einen Teil dazu beigetragen hat, dass Gerechtigkeit herrscht. Dieses Ereignis ist nicht nur entscheidend für Deutschland, sondern stärkte auch die Europäische Union. In Bezug auf die DDR und Europa sollten wir uns als eine Einheit sehen und nicht gegeneinander kämpfen oder uns von anderen abgrenzen. Wir sollten nicht vergessen, dass vor nicht weit entfernter Zeit, quer durch Europa eine Mauer verlief, die uns trennte.