Von Ruweida Abdramane aus Leverkusen
Wie ein Mensch sich benimmt oder verhält, hängt von ihm selbst ab, doch meistens ändert sich eine Person durch ihre Umgebung. Die Personen, mit denen man abhängt, die Eltern, die einen erziehen, die Lehrer, die einen unterrichten und einem beibringen, was man vorher nicht kannte, die Medien, die man sich anschaut und zu sich nimmt und letztendlich die Gesellschaft. All das spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung eines Menschen. Gilt dieselbe Regel aber auch für die, die anscheinend von Natur aus egoistisch, selbstsüchtig und gierig sind? Für die, die von positiven Sachen umgeben sind: positive Verwandte, Freunde, Lehrer, Medien und eine positive Gesellschaft und trotzdem so enden, als hätten sie noch nie eine Nettigkeit in ihrem Leben erlebt?
Emilia. Ein Mädchen, das mit allem auswuchs, das man sich je erträumen konnte. Eine „perfekte” Familie, „perfekte” Nachbarschaft und „perfekte” Freunde. Ihr fehlte nie irgendetwas, und genau wie die Welt zu ihr war, nett, war sie es auch zu der Welt. Doch in ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr änderte sich alles. Sie verliebte sich in einen Jungen. Ein Junge war so bildschön wie ein Gemälde von Leonardo da Vinci. Mit einem Körperbau, als wäre er von Michelangelo angefertigt. Ein Junge, den kein anderes Wort beschrieb als das Wort Prinz. Ein Prinz wie die Prinzen aus Märchen. Er war einfach „perfekt” und passte wie ein verlorenes Puzzlestück in Emilias Leben. Emilia versuchte sich mit dem Jungen anzufreunden, dessen Namen sie erst nach zehn Tage mit konstantem „Smalltalk” erfuhr.
Er hieß Oliver und als Architekt, der täglich nach Inspiration suchte, saß er jeden Tag in einer Ecke mit Ausblick zur Straße in dem Café, wo Emilia als Kellnerin arbeitete, und bestellte immer denselben Kaffee: Cappuccino um Punkt neun Uhr. Oliver würde dann mit kleinen Pausen bis achtzehn Uhr arbeiten, wobei er sich mit Kunden unterhielt und seine Entwürfe präsentierte. In diesen Momenten versuchte Emilia immer, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Manchmal funktionierte es, doch meistens schien es so, als würde er sie meiden. Gegen sechs verließ Oliver das Café und machte einen kleinen Spaziergang, bis er einen Park mit vielen Bänken erreichte. Dort arbeitete er, wenn das Wetter es zuließ, weiter bis acht.
Das alles fand Emilia mithilfe ihres Jobs und zahlreicher Beziehungen heraus. Nachdem drei Monate ohne Erfolg für Emilia verflogen waren, sprach Oliver sie zum ersten Mal von sich aus an.
Es war ein perfektes Tag und an den einzelnen Details erinnert sich Emilia ganz genau, denn wie könnte sie jemals diese Wendung ihres Lebens vergessen. Die Sonne schien nicht zu stark, es war leicht windig und die Luft roch nach frisch gemähtem Gras. Emilia kam genau wie jeden Tag pünktlich zur Arbeit, unterhielt sich kurz mit ihrem Boss, die sie lobte und ihren Kollegen, die ihr Leben beneideten, doch sie gleichzeitig bewunderten. Sie bereitete die Gebäcke vor und machte anschließend um acht Uhr das Café auf.
Die Stunde bis neun verging wie im Zeitraffer. Es kamen die üblichen Kunden, die sich fürs Frühstück ein frisches Gebäck und Coffee-to-Go kauften, und ein Paar, das sich spontan entschieden hatte, dort zu frühstücken, da die beiden alle Zeit der Welt hatten.
Um Punkt neun stand Oliver vor Emilia und bestellte seinen Cappuccino. Emilia wollte ihn, wie auch sonst, begrüßen, als er ihr zuvor kam: „Guten Morgen.”
„Ah, ähm, Guten Morgen, Oliver“, antwortete Emilia überrascht.
„Wie geht es Ihnen heute?”, fragte er.
„Gut und Ihnen?” Emilia merkte, wie sie beim Reden stotterte. Es lag wohl daran, dass Oliver so plötzlich Interesse an ihr zeigte.
„Auch gut. Wie Sie wahrscheinlich schon wissen, nehme ich immer eine kleine Pause gegen zwölf. Wäre es möglich, dass ich kurz mit Ihnen während dieser Zeit sprechen könnte?”
„Natürlich”, lächelte Emilia, „Selbstverständlich wäre es möglich.”
Die zweite Antwort schien eher wie eine Art Überzeugung für sie selbst zu sein, dass Oliver tatsächlich mit ihr sprechen wollte.
Sie reichte ihm seinen Cappuccino und sah zu, wie er zu seinem ‘Arbeitsplatz’ ging. Emilia zählte die Stunden, Minuten und Sekunden runter, bis sie mit Oliver sprechen konnte: 2 Stunden, 58 Minuten und 21 Sekunden. Es waren genau 16 Kunden gekommen und gegangen, als noch 2 Stunden, 30 Minuten und 1 Sekunde übrig waren. Bei 2 Stunden, 3 Minuten und 47 Sekunden, waren 10 Kunden, exklusive Oliver, im Café. 1 Stunde, 19 Minuten und 36 Sekunden: Emilia war sehr beschäftigt mit den zunehmenden Kunden und hätte fast den Überblick verloren. Oliver saß immer noch an derselben Stelle und skizzierte dort irgendwas.
Ach, wäre ich doch nur Luft. Dann könnte ich jederzeit mit ihm überall sein, dachte Emilia, als sie über einen Mann hinweg zu Oliver sah. Zufälligerweise schaute Oliver in ihre Richtung und lächelte ihr zu, als ihre Augen sich trafen. Ab halb eins begann der Ansturm nachzulassen, da ab diesem Zeitpunkt die meisten lieber zum Mittagessen ins Restaurant gingen. Nachdem Emilia sich von dem vorerst letzten Kunden verabschiedet hatte, schaute sie zu Oliver und sah, dass ihm auf einmal eine Frau gegenüber saß. Emilia spürte Wut in ihr aufsteigen. Und diese Wut wuchs, je länger sie beobachtete, wie Oliver sich mit der Frau unterhielt und zwischendurch lachte. Sie war sich bewusst, dass es eigentlich nur Eifersucht war, die sich zur Wut umwandelte, und ihr war auch klar, dass sie kein Recht dazu hatte, wütend zu werden, da sie nicht mit Oliver zusammen war. Doch je mehr sie die beiden beobachtete, desto stärker wurde ihre Eifersucht und folglich ihre Wut. Dennoch konnte sie nichts weiter tun, als zuzugucken, bis sie endlich ihre Pause nehmen konnte.
Sie hoffte, dass die Frau bis dahin gegangen sei, aber sie blieb. Schließlich ging Emilia zu ihnen hinüber und sagte mit erzwungenem Lächeln: „Hallo Oliver, es ist jetzt zwölf Uhr, und Sie wollten ja mit mir sprechen.”
„Olivia, wäre es möglich, dass wir später weitersprechen?”, fragte Oliver die Frau, die ihm gegenüber saß.
„Selbstverständlich“, entgegnete Olivia. „Wird es länger dauern?”
„Nein, es wird ein sehr kurzes Gespräch sein.”
„Ok, wir sehen uns dann gleich.”
Als Olivia aufstand und irgendwo draußen in der Menschenmenge verschwand, setzte sich Emilia hin und Oliver begann im selben Moment: „Ich will nicht Ihre Zeit verschwenden, also sage ich es sofort. Ich bin mir nicht sicher, ob es nur meine Vorstellungen sind, aber falls Sie wirklich in mich verliebt sind, dann möchte ich Ihnen sagen, dass Sie sich keine Hoffnungen machen sollten. Ich war noch nie verliebt, also weiß ich nicht, ob es einfach ist, jemanden nicht mehr zu lieben, aber ich möchte nicht, dass Sie Ihr Liebesleben dadurch verschwenden, in jemanden verliebt zu sein, der sehr wahrscheinlich die Liebe nicht erwidern kann.”
„Wieso denken Sie, ich sei in Sie verliebt?” fragte Emilia so kühl wie möglich, obwohl sie innerlich vor Wut und Enttäuschung kochte.
„Nun, Sie starren mich jeden Tag an und versuchen immer mit mir Gespräche zu führen, auch über sinnlose Sachen.”
„Ok, und wieso glauben Sie, es sei nicht möglich, dass sie sich in mich verlieben?” versuchte Emilia.
Oliver antwortete schüchtern: „Bis vor kurzem hätte ich diese Frage nicht beantworten können, aber ich glaube ich bin verliebt.”
„Wie bitte?” Emilia war verblüfft. War er etwa in Olivia verliebt? Eine Person, die ihr nicht mal ebenbürtig war?
„Ich glaube, ich bin in Olivia verliebt”, gab Oliver zu.
Zur gleichen Zeit kam Olivia zurück und bekam alles mit, was er sagte.
„Ich dachte, es ging nur mir so!?”, strahlte sie.
„Ähm, möchtest du meine Freundin sein?” Er stotterte mit jedem Wort.
„Ja! Und tausendmal ja!”, schrie Olivia und umarmte ihn.
Emilia saß versteinert da und sah zu, wie ihr ganzes Leben zerbrach. Wie konnte sich Oliver in ein Mädchen verlieben, das er nur seit einem Tag kannte? Nicht nur das, dieses Mädchen war nicht mal schöner als sie oder schlauer. Sie war nicht reich oder hatte eine gute Familie. Alles an ihr war scheiße! Sie war nur ein schwarzer, verlorener Ausländer! Sie gehörte nicht mal in dieses Land!
Als Emilia später hinter der Kasse stand und zusah, wie Oliver sich weiter mit Olivia unterhielt, wurde die Wut stärker und noch hässlicher, als sie es hätte zugeben mögen. Ihr Hass richtete sich nicht nur auf Olivia, sondern auch auf ihre Hautfarbe und Herkunft. Plötzlich, als wäre es etwas Genetisches, etwas Natürliches, spürte Emilia Hass auf die, die ihr Land verdreckten, verschmutzten und zerstörten. Irgendwie schien ihr das, was ihr Vorfahr getan hatte, um sein Land angeblich „sauber“ zu halten, nicht mehr so schlimm. Denn er hatte getan, was er für nötig hielt, um diese Drecksviecher von seinem Land fernzuhalten.
Jener Tag war die Wendung ihrer Denkweise. Jedes Mal, wenn sie jemanden sah, der nicht die gleiche Herkunft hatte wie sie, wurde sie wütend und beschimpfte die Person. Sie setzte sich mehr dafür ein, dass Ausländer verschwinden. Dass Deutschland so wird, wie ihr Vorfahr es sich ausgemalt hatte. In den Sozialen Medien, bei der Arbeit und bei Familien- und Freundestreffen redete sie nur ständig darüber, wie die Ausländer irgendwann das Land einnehmen würden. Denn egal, wohin man schaute, gab es links und rechts mindestens mehr als fünf Ausländer, behauptete sie.
Die, die ihr nahestanden, wunderten sich, warum sie sich plötzlich so stark verändert hätte. Die meisten ignorierten das, was sie sagte, während andere den Kontakt abbrechen – unter anderem die, die nicht Deutsche waren. Ihre Eltern machten sich Sorgen um sie, dass ihr vielleicht irgendetwas angetan wurde. Doch sie wussten nicht, dass es andersherum war. Emilia würde jedes Mal, wenn sie Olivia sah, egal wo, versuchen, ihr etwas anzuhängen, was sie nicht getan hatte.
„Was ist nur los mit dir!”, schrie ihre Mutter sie an, als sie zuhause angekommen waren. „Wieso tust du so etwas?”
„Das ist das Dreiundzwanzigste mal, dass wir von der Polizei angerufen wurden, um dich abzuholen, weil du schon wieder versucht hast, Olivia etwas anzuhängen!”, fügte ihr Vater hinzu.
Emilia, die vor ihre Eltern stand, argumentierte: „Seid ihr wirklich so blind, dass ihr nicht seht, wie die Ausländer versuchen, unser Land einzunehmen? Außerdem hat sie mich wirklich angegriffen. Wieso glaubt ihr mir nicht? Manipulieren sie euch etwa?”
„Wieso hasst du auf einmal Ausländer?“, fragte ihre Mutter entsetzt. „Haben sie dir etwas angetan? Du warst vorher nicht so. Du warst sogar sehr eng mit Amara befreundet. Jemand, die nicht aus Deutschland stammt!”
„Mehr als die Hälfte von meinen Freunden waren Ausländer, und das zeigt doch nur, dass sie immer mehr und mehr werden“, entgegnete Emilia. „Sie vermehren sich wie Parasiten, um unser Land einzunehmen und uns irgendwann zu vertreiben.”
„Was geht nur in deinem Kopf vor? Hast du deinen Verstand verloren? Wenn wir nochmal angerufen werden, um dich aus dem Gefängnis zu befreien, dann werden wir dich aus dieser Familie verstoßen!”, versicherte ihr Vater.
Natürlich konnte Emilia es nicht sein lassen, denn am nächsten Tag veröffentlichte sie ein Video, wo Olivia anscheinend versucht, sie zu ermorden. Es konnte aber direkt aufgeklärt werden, dass Emilia jemanden dafür bezahlt hatte, sich als Olivia auszugeben.
Alle ihre Freunde und ihre ganze Familie brachen den Kontakt zu ihr ab, und aus Angst, Kunden zu verlieren, feuerte ihr Boss sie. Da sie nicht mehr ihre Miete bezahlen konnte, wurde sie aus ihrer Wohnung rausgeschmissen. Jeder, der sie sah, egal ob Deutsche oder nicht, hielt sich fern von ihr, außer Jugendliche, die sie manchmal filmten.
Aber auch nachdem sie obdachlos geworden war, alles verlor, was sie jemals besaß, provozierte sie immer wieder Streit mit jedem Ausländer, den sie sah.
Genau an dem Tag, an dem Emilia starb, heirateten Olivia und Oliver und zogen in das Haus ein, das Oliver selbst gestaltet hatte.
Also, gilt diese Regel? Sie können selbst entscheiden. Emilia hatte alles, was sie wollte, doch wegen Liebe und Eifersucht zerstörte sie alles, was sie besaß. Ist es die Schuld von Olivia? Wäre, wenn es Olivia nicht gegeben hätte, Emilia nie so geendet?
Oder sollte Emilia selbst erkennen, dass das, was sie tat, falsch war?
Das ist doch die Frage, die wir uns alle stellen.
Was geht nur im Kopf solcher Personen vor?